Der Angriffskrieg Russlands zwingt mehrere Millionen Menschen aus ihrer Heimat zu fliehen. Unter welchen Bedingungen und in welche Zielländer erfolgt die Flucht und warum entscheiden sich zwei Drittel der Vertriebenen, trotz der Lebensgefahr in der Ukraine zu bleiben? Eine Analyse der Historikerin und Doktorandin Veronika Weisheimer.
Menschenbewegung ist eine übliche Begleiterscheinung jedes Krieges: Vertreibung, Deportation oder Flucht prägen das Leben der Zivilbevölkerung genauso stark wie Zerstörungen und Kriegsgewalt. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine löste den schnellsten inneneuropäischen Migrationsstrom des 21. Jahrhunderts aus. Innerhalb von zwei Monaten seit dem Kriegsausbruch am 24. Februar 2022 überquerten über fünf Millionen Menschen die ukrainische Grenze, fast drei Viertel davon bereits im ersten Monat. Die Vertreibung verursacht dabei gravierende Veränderungen sowohl für die ukrainischen Geflüchtete, deren Familien und Weltanschauung, als auch für Gastgebergesellschaften, die auf ihre Ankunft kaum vorbereitet waren. Bis Mitte April 2022 wurden bereits ca. 12,6 Millionen Menschen gezwungen, ihren Wohnort aufgrund des Krieges zu verlassen. Laut Schätzungen überlegen weitere mindestens drei Millionen, sich für die Ausreise zu entscheiden. Dies würde bedeuten, dass ein Drittel der ukrainischen Gesamtbevölkerung von 42 Millionen zu den Vertriebenen zählen würde, dabei auch jedes zweite Kind.
Historisch gesehen erlebte die ukrainische Bevölkerung vier Emigrationswellen in den letzten 150 Jahren, zwei davon wurden durch die Weltkriege in Gang gesetzt und waren mit der Flucht von der Moskauer Herrschaft verbunden. Ukrainische Emigrant:innen, die aus politischen Gründen vor dem sowjetischen Terror flohen, suchten Schutz und Anerkennung europäischer Gesellschaften. Sie verließen das Land, das als Schauplatz der gewaltigsten Verbrechen der Regimes Stalins und Hitlers diente.1 70 Jahre später wurde die Ukraine wieder zum Opfer der aus dem Osten kommenden imperialistischen Ansprüche und der Gewalt, die seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa verbannt zu sein schien. Die Überlebenden des Nazi-Terrors vergleichen die schreckliche Realität mit ihren Erfahrungen vor 80 Jahren und ziehen eindeutige Parallelen mit den Verbrechen der russischen Truppen heute auf dem ukrainischen Boden.2
Die russischen Luftangriffe erfolgen unvorhersehbar und landesweit. Dabei zielen die Raketen nicht nur auf Militär- und Infrastrukturobjekte, sondern gleichermaßen auf Städte, Krankenhäuser und Wohnanlagen. Dies setzt die Zivilbevölkerung der Ukraine sowohl an der Frontlinie als auch im tiefen Hinterland in Lebensgefahr. Fluchtkorridore, Evakuierungszüge, Menschenkonvois sind nicht mehr Begriffe aus Geschichtsbüchern: Für die ukrainische Zivilbevölkerung wurden sie ein Teil der neu entstandenen Realität. Wer seine Heimat in den militärischen Kämpfen nicht verteidigt oder in die systemrelevante Versorgung nicht involviert ist, steht vor der Wahl: zu bleiben oder zu gehen. Die Entscheidung der Flucht fällt vielen zunächst schwer: Sie ist mit Zweifeln, Schuldgefühlen oder Verlustängsten verbunden, viele sind nicht bereit, ihre Heimat und Wohlstand zu verlieren, sich in die Ungewissheit zu begeben. In der lebensgefährlichen Situation setzt sich jedoch oft der natürliche Instinkt durch, die Suche nach Schutz und Sicherheit. Die Flucht wird dabei meistens zu einer der prägendsten Lebenserfahrungen, viele zwingen jedoch die Umstände, diese Entscheidung zu treffen.
Auf der Suche nach Schutz und Sicherheit im In- und Ausland
Zwei Drittel der Migrationsbewegung bilden Binnenflüchtlinge, die nach einem sicheren Ort in der Heimat suchen. In vielen Fällen sind es Familien, die sich aufgrund des Ausreiseverbots für männliche ukrainische Staatsangehörige im Alter von 18 bis 60 Jahren gegen die Trennung entscheiden. Die von der Front entfernten westukrainischen Gebiete gelten als sicherer Hafen. Die dadurch entstandene Bevölkerungsdichte in der Region führt dabei zu Versorgungsschwierigkeiten und erhöht die Gefahr großer Verluste der Zivilbevölkerung im Falle eines unerwarteten Luftangriffs. Andererseits ist der Weg in die Heimatorte kürzer, sollte sich die Lage dort beruhigen, und natürlich spielt die Vertrautheit der Sprache und Umgebung für die Schutzsuchenden eine wichtige Rolle.
Über fünf Millionen entschieden sich bisweilen für den sichersten Weg: die Flucht ins Ausland. Da die Grenze derzeit nur auf dem Landweg überquert werden kann – mit Zug, Auto, Bus oder zu Fuß – sind die EU-Staaten, die an die Ukraine angrenzen, die ersten Aufnahmeländer. Die Reise ist oft mit Schwierigkeiten verbunden: Überfüllte Züge, lange Wartezeiten, physische Erschöpfung und Panikattacken erschweren den Fluchtweg. Haben die Geflüchteten es einmal über die Grenze geschafft, werden sie mit viel Empathie und Hilfsbereitschaft empfangen. Über 2,8 Millionen Geflüchtete erreichten bisher Polen, 700.000 Rumänien, 480.000 Ungarn, 430.000 Moldawien und 349.000 die Slowakei. Zu über einer halben Million Menschen, die die Grenze nach Russland überschritten, zählen u.a. Zwangsvertriebene aus den besetzten ukrainischen Gebieten. Die meisten Geflüchteten halten sich in der relativen Grenznähe auf. Im Falle Polens ist es oft die Sprache, die für Ukrainischsprechende schnell zu lernen ist, das von der Diaspora geprägte Umfeld, die Gastfreundschaft der polnischen Bevölkerung sowie der kurze Weg in die Heimat, die für die Wahl dieses Landes sprechen. Nur ein Teil der Geflüchteten hat Bekannte und Verwandte, die sie im Ausland aufnehmen.
Einige entscheiden sich für die Weiterreise und erreichen mittel- und westeuropäische Staaten. In Deutschland wurden seit Kriegsbeginn insgesamt 610.000 Geflüchtete aus der Ukraine registriert und im Ausländerzentralregister bis Ende April erfasst, laut der tschechischen Polizei ließen sich weitere 304.000 in Tschechien nieder. Die Zahlen sinken jedoch mit der Entfernung von der ukrainischen Grenze: Lediglich 71.800 Aufenthaltserlaubnisse wurden Mitte April für ukrainische Vertriebene in Großbritannien ausgestellt, Ende März wurden weitere 30.000 Personen in Frankreich registriert, die Hälfte solle aber nach Spanien weitergereist sein. Die angekündigte Bereitschaft der US-amerikanischen Regierung, 100.000 Geflüchtete aus der Ukraine aufzunehmen, litt bisher unter fehlenden Transporten und bürokratischen Schwierigkeiten.
Gesellschaftliche Herausforderungen als Chance
Die soziale Zusammensetzung der ukrainischen Geflüchteten hat gegenwärtig ein signifikantes Merkmal: sie hat ein weibliches Gesicht. Die Mehrheit konstituieren Frauen mit minderjährigen Kindern, Männer dürfen das Land nur in Ausnahmefällen verlassen. In größeren Familiengruppen reisen auch ältere Familienangehörige mit. Die Frauen, die die Verantwortung für die Zukunft ihres Nachwuchses sowie die leitende Rolle in oft traditionell geprägten Familien übernehmen, setzen sich mit Bürokratie und Alltagsschwierigkeiten auseinander. Sie prägen auch die Integration der Geflüchteten in bestimmten Bereichen des Arbeitsmarktes. Ihre Kinder verstärken die Vielfalt der Schulklassen der Aufnahmeländer. Von Ausgrenzung und Schwierigkeiten berichten hingegen Geflüchtete aus der Ukraine, die nicht über die ukrainische. Staatsangehörigkeit verfügen, obwohl sie ebenfalls Opfer des Krieges sind.
Von den europäischen Staaten werden die Aufnahme und der Umgang mit den ukrainischen Geflüchteten als eine Chance wie auch als eine Prüfung der europäischen Solidarität gesehen. Von überwältigender Unterstützungsbereitschaft geprägt war diesbezüglich die Reaktion der polnischen Bevölkerung. Die Hilfe und Solidarität ist umso bemerkenswerter, weil die Beziehungen zwischen Polen und der Ukraine durch historische Spannungen, die in den letzten Jahren sowohl durch rechte Kreise als auch durch die polnische Regierung zugespitzt wurden, gezeichnet waren. Jetzt wurde jedoch klar, dass Polen und die Ukraine vor der russischen Gefahr einig sind. Man griff auf die Erfahrung der russischen Machtaspirationen zurück, die aus den Zeiten des Russischen Imperiums und der Sowjetunion vielen ost- und mitteleuropäischen Nationen gut bekannt sind. Dies ist gleichzeitig eine Probe für europäische Werte, die in der Ukraine bereits 2014 als wegweisend erklärt und an der Ostgrenze erkämpft wurden und in einigen europäischen Staaten in Krise gerieten. Ungarn ist beispielsweise ein Land, das zwar an die Ukraine angrenzt und zu den Aufnahmeländern für ukrainische Flüchtlinge zählt, seine Außenpolitik führt es allerdings im Missklang zu anderen EU-Staaten.
Während einige Geflüchtete von der langen Dauer der Kriegsauseinandersetzungen ausgehen und sich in die Aufnahmegesellschaft langfristig integrieren wollen, erwartet die Mehrheit der Vertriebenen erfahrungsgemäß eine schnelle Rückkehr in die Ukraine. Der Glaube an den Sieg der ukrainischen Streitkräfte schwächt nicht, viele sehen die Ausreise als eine provisorische Maßnahme und Notwendigkeit. Ukrainische Arbeitsmigrant:innen, die vor dem Krieg im Ausland lebten, kehren hingegen in ihre Heimat zurück: Laut dem ukrainischen Grenzschutz reisten über 537.000 ukrainische Staatsangehörige seit dem Kriegsausbruch ins Land ein. Trotz Flucht verblasst die Verbundenheit zum Heimatland nicht, im fremden Umfeld wird sie vielmehr artikuliert und ausgeprägt.
Die Migrationserfahrungen des aktuellen Krieges werden ein Bestandteil der künftigen ukrainischen Gesellschaft sein und sie stark prägen, neben Kriegsverlusten, Traumata und persönlichen Brüchen. Die dadurch erfolgte Begegnung von mehreren Millionen ukrainischen Geflüchteten mit europäischen Gesellschaften wird die Bindung zwischen der Ukraine und Europa stärken und für die Sicherheit eines Teils der Bevölkerung sorgen.
1 S. Timothy Snyder, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München: C.H. Beck, 2011.
2 Siehe bspw. den Kommentar von Anastasia Gulej, https://lpb.sachsen-anhalt.de/fileadmin/Bibliothek/Politik_und_Verwaltu… und https://www.zdf.de/nachrichten/heute-sendungen/videos/anastasia-gulej-m…